zur Erinnerung
Talsperre Eibenstock:

Das Jahrhundertbauwerk im Erzgebirge

Von Gabi Thieme

Erschienen am 13.12.2019

Scheinbar selbstverständlich liefert die Talsperre seit mehr als 30 Jahren Wasser für rund 650.000 Einwohner in Südwestsachsen. Wie das Jahrhundertprojekt in der DDR umgesetzt wurde und warum das Riesenfass keineswegs immer voll sein muss, hat jetzt der damalige Oberbauleiter zu Papier gebracht.

Als in Folge des Hitzesommers 2018 die riesige Trinkwassertalsperre Eibenstock im Westerzgebirge halb leerlief, machte sich mancherorts Panik breit. Nicht so bei Eberhard Jüngel. Er war vom offiziellen Baubeginn 1974 bis zur letzten Rechnungslegung 1987 als Oberbauleiter dabei, als der Trinkwasserspeicher im Tal der Zwickauer Mulde auf Beschluss des IX. Parteitages der SED errichtet wurde - als Projekt von höchster Dringlichkeit in der DDR. Nach 1990 wurde Jüngel "Chef" aller Talsperren im Westerzgebirge und ab 1997 auch der im Vogtland. Immer wenn Stauspiegel sanken, nervte ihn die Panikmache. Er wurde nicht müde aufzuklären, dass eine Talsperre ja genau dafür da ist: in Trockenzeiten stabil Wasser zu liefern und es bei Hochwasser zumindest teilweise zurückzuhalten. 2012 ging Jüngel in den Ruhestand, doch sein Lebenswerk lässt ihn nicht los.

Im vergangenen Jahr griff er die Anregung der Ortsschreiberin von Eibenstock auf, die Geschichte der Talsperre und die vielen Geschichten, die sich um den Bau und die Nutzung des Sees ranken, doch zu Papier zu bringen. Ein Plan, mit dem er bei Bürgermeister Uwe Staab offene Türen einrannte. Denn schon seit 2007 gibt die Stadt eine Buchreihe heraus: "Am Auersberg - Schriften zur Geschichte". Band I war 2007 dem 100-jährigen Bestehen des Auersberghauses gewidmet. Es folgte unter anderem ein Buch zum 100-jährigen Bestehen des Rathauses und in diesem Jahr eins zu Persönlichkeiten der Stadt, nach denen Straßen benannt sind. Das Buch über die Talsperre Eibenstock und das dazu gehörige Wasserwerk Burkersdorf ist der nunmehr elfte Band der Auersberg-Geschichten.

Eberhard Jüngel und fünf Mitautoren haben viele Zahlen und Fakten zusammengetragen, aber auch etliches, was weit darüber hinausreicht. Sie berichten über den 14 Jahre währenden Bau, über die 100 Jahre zurückreichende Vorgeschichte, über den elf Kilometer langen Rohwasserstollen bis ins Wasserwerk Burkersdorf, über dessen Modernisierung in jüngerer Vergangenheit sowie über die 32 Kilometer lange Fernleitung, durch die das Wasser schließlich bis zu den Verbrauchern im Zwickauer und Chemnitzer Raum fließt. Sie erzählen auch, warum sich bei der Leitung nach einigen Jahren die Bitumeninnenverkleidung löste und bis in die Waschmaschinen der Kunden gelangte.

Mehr als die Hälfte ist geschafft: Der Talsperrenbau in Eibenstock zu Anfang der 80er-Jahre. Mehr als die Hälfte ist geschafft: Der Talsperrenbau in Eibenstock zu Anfang der 80er-Jahre.
Foto: Peter Müller/Archiv

Die Talsperre Eibenstock ist die zweitgrößte Trinkwassertalsperre Ostdeutschlands. Sie gehört aber längst nicht zu den größten in der Republik. Die Größe richtet sich nicht nach den Abmessungen der Staumauer oder der Wasserfläche, sondern nach dem Stauraum. Der umfasst in Eibenstock 84 Millionen Kubikmeter. 20 Millionen davon sind für den Hochwasserschutz freizuhalten. Die Staumauer der Hauptsperre ist 307 Meter lang und 65 Meter hoch, wobei acht Meter in der Baugrube "verschwunden" sind, beschreibt es .Jüngel. Die längste Staumauer in Deutschland mit 6o Metern ist die der Möhnetalsperre im ostwestfälischen Sauerland, mit 525 Metern folgt als zweitlängste die der Talsperre Muldenberg im Vogtland.

Die Idee für den Bau einer Talsperre im Tal der Zwickauer Mulde bei Eibenstock gab es bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts. Grund dafür war der Hochwasserschutz für die Städte Aue und Zwickau sowie für weitere Orte entlang des Flusses. Der heutige Standort wurde zwischen den 1890er- und 1930er- Jahren gefunden. Auch weitergehende Untersuchungen liefen damals schon. Der Antrag auf Baugenehmigung wurde jedoch immer wieder zurückgestellt. Es fehlte das Geld, dazwischen kamen zwei Weltkriege, und man war zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht bereit, die Bahnstrecke Chemnitz - Adorf als südlichste Ost-West-Verbindung in Sachsen zu opfern. Es gab sogar Überlegungen, eine Talsperre zu bauen und dabei die Bahnstrecke zu erhalten. Eine von diesbezüglich zwei Varianten sah vor, den Zug durch einen sieben Kilometer langen Tunnel auf dem Grund des Stausees rollen zu lassen. Er sollte am Fuß der Staumauer wieder ans Tageslicht kommen. Vor allem der Zweite Weltkrieg ließ die Pläne letztlich in den Schubladen verschwinden.

Ihr ehrgeiziges Wohnungsbauprogramm zwang die DDR schließlich zum Handeln. Es entstanden vor allem in Zwickau und Karl-Marx-Stadt riesige Plattenbausiedlungen mit modernen Bädern. Wasseruhren gab es nicht. Die Kosten für das kostbare Nass waren in der niedrigen Miete pauschal enthalten. Der Wasserverbrauch stieg rasant auf 200 Liter pro Person und Tag. Zum Vergleich: Heute liegt er bei etwa 80 Litern.

Der geplante Stauraum war Anfang der 70er-Jahre keineswegs menschenleer. Neben der Bahnstrecke Chemnitz - Aue - Adorf, von der am Unteren Bahnhof Eibenstock noch die steilste Normalspurstrecke bis zum Oberen Bahnhof in Eibenstock abzweigte, gab es auch den zu Aue gehörenden Weiler Muldenhammer. Etwa 100 Familien lebten dort - nahe einer traditionsreichen Papierfabrik. Der letzte durchgehende Reisezug auf der Strecke fuhr am 27. September 1975. Die Papierfabrik Neidhardtsthal stellte am 11. September 1975 ihre Produktion ein. Die Sprengung ihrer hohen Esse war ein "besonderes Spektakel", beschreibt es Autor Jüngel. Beim Abriss aller Gebäude und baulichen Anlagen wurden die Keller verfüllt und alles eingeebnet. Es gibt im Buch ein emotionales Foto von der letzten Schicht, für das Konrad Falk, der damals in der Betriebsleitung tätig war, die Belegschaft an einer Papierrolle versammelte. Auf ihr ist zu lesen: "'s Feierohmd."

Die 100 Familien im Weiler Muldenhammer wurden teilweise zwangsumgesiedelt, eine sogar mit Polizeigewalt. Sie erhielten Neubauwohnungen in Eibenstock, andere zogen weg, einige bauten sich ein neues Heim. Auch 180 Hektar Wald mussten für die Talsperre weichen.

Der Tag des offiziellen Baubeginns, der 1. April 1974, war der erste Arbeitstag für Eberhard Jüngel, der sich als Diplomingenieur für Konstruktiven Wasserbau um die Stelle in der Bauleitung bei der Wasserwirtschaft der DDR beworben hatte. Einen offiziellen ersten Spatenstich gab es nicht, wohl aber eine feierliche Grundsteinlegung am 26. April 1978. 1980 hatte die Staumauer die Hälfte ihrer Höhe erreicht. In Spitzenzeiten arbeiteten bis zu 1000 Leute im Schichtbetrieb auf der Baustelle. Ab 1977 fand das Gros der Auswärtigen in jenem neuen Arbeiterwohnheim ein Quartier, das dann 1987 an den FDGB-Feriendienst der DDR überging und heute als Hotel "Blaues Wunder" eine der gefragtesten touristischen Adressen im Auersberggebiet ist. Eberhard Jüngel erinnert sich noch, wie in den Anfangsjahren für die in Aue wohnenden Mitarbeiter der Aufbauleitung ein alter Pkw Wolga mit drei Gängen für den Berufsverkehr" zum Einsatz kam. Da bei Minustemperaturen gelegentlich die Benzinleitung zwischen dem Tank am Heck und dem Motor einfror - sie war am Unterboden befestigt -‚ half sich der Fahrer mit einem offenen Feuer, das er unter dem Fahrzeug anzündete. "Wir verließen dann jedes Mal fluchtartig das Auto, das allerdings nie abbrannte", berichtet Jüngel.

Am ‚ 15. April 1982 floss das erste Wasser aus der Talsperre bis ins Wasserwerk. Schon zwei Monate später ging das Gesamtsystem in Dauerbetrieb - obwohl es noch fünf Jahre dauerte, bis letztlich alles fertig war. Zu dem Gesamtsystem gehört auch ein nahezu wartungsfreier elf Kilometer langer Rohwasserstollen, der zwischen 1974 und 1982 aufgefahren wurde. Durch ihn gelangt das Wasser aus der Talsperre im natürlichen Gefälle bis zum Wasserwerk Burkersdorf- ohne jegliche Pumpe. Beim Auffahren des Stollens kam es zu einem Geländeeinbruch, der die Arbeiten um sechs Monate verzögerte. Obwohl zuvor bei der Erkundung im Abstand von mehreren 100 Metern Kernbohrungen durchgeführt worden waren, hatten die Fachleute offenbar einen verwitterten Felsbereich "verfehlt". Auf Veranlassung verschiedener Ministerien wurde fast die gesamte für geologische Erkundung geeignete Bohrtechnik der DDR herangezogen, um nach festem Fels zu suchen und den Stollen umzuleiten. Die Abstände zwischen den Bohrlöchern betrugen oft nur wenige Meter. Die Mehrkosten wurden nie öffentlich gemacht.

Vom ersten Beton in der Baugrube bis zur Fertigstellung der Mauerkrone wurde eine Vielzahl von Messpunkten für die Bauwerksüberwachung eingebaut. Heute gibt es über 600 solcher Messstellen. Vor allem bei Stauspiegel- und Temperaturschwankungen "bewegt" sich der Koloss, der aus 26 nebeneinanderstehenden Betonfeldern besteht.

Bereits während der Bauzeit sowie 2002 und 2013 erlebte die Talsperre Hochwasser von ungeahntem Ausmaß. Danach wurde immer wieder der scheinbar größte Widerspruch in Bezug auf die Funktionen der Stauanlage diskutiert. Denn die Bereitstellung von Wasser für die Versorgung verlangt möglichst großen Betriebsraum im Stausee. Optimaler Hochwasserschutz wiederum erfordert einen möglichst großen Hochwasserrückhalteraum. Heute muss rund ein Viertel des Stauraums für Hochwasser frei bleiben.


Quelle: FP vom 13.12.2019


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